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In einem alten Kloster lebte der Junge Laurin, der die Bibliothek mehr liebte als jeden Festtag. Wenn die anderen Kinder und Novizen zu Weihnachten zu ihren Familien aufbrachen, blieb er zurück: allein mit den Reihen von Büchern, dem flackernden Kerzenlicht und dem leisen Knarren der Regale. Die Bibliothek war sein sicherer Ort, ein Raum, in dem die Zeit langsamer ging und die Stille nicht leer, sondern voller Geschichten war.

In diesen Regalen lagen handgeschriebene Folianten, in denen die Tinte teilweise schon verblasst war. Es gab Chroniken über Drachen, die einst über verschneite Berge flogen, Gleichnisse von sprechenden Tieren, die den Menschen Mut machten, und alte Weihnachtslieder, deren Melodien niemand mehr sang. Manche Bände waren oft gelesen, mit Eselsohren und Flecken im Rand, andere wirkten, als hätte seit Jahrzehnten niemand ihre Seiten berührt. Laurin nahm sich jedes Jahr vor, auch diese vergessenen Bücher zu öffnen.

In der Nacht vor Weihnachten zog ein ungewöhnlich heftiger Schneesturm auf. Der Wind fuhr durch die Kreuzgänge, schlug Fensterläden auf und drang durch jede Ritze. In der Bibliothek löschte er einige Kerzen, ließ andere höher aufflammen. Dann geschah etwas, das Laurin noch nie erlebt hatte: Der Sturm griff nach den Büchern. Seiten lösten sich aus ihren Einbänden, flogen durch den Raum und drehten sich wie weiße Vögel im Kerzenlicht. Geschichten fielen auseinander: ein Stück Lied hier, ein Abschnitt einer Drachenchronik dort, ein halber Satz aus einem Gleichnis.

Laurin versuchte zunächst, das Chaos zu stoppen. Er rannte den flatternden Seiten hinterher, fing einige in der Luft und legte sie wieder auf Tische und Bänke. Doch je mehr er ordnen wollte, desto deutlicher spürte er, dass sich etwas Grundlegendes verändert hatte: Es war nicht nur Unordnung, es war, als hätte der Sturm die Grenzen zwischen den Geschichten aufgehoben. Ein Weihnachtslied tauchte mitten in einem Kriegstagebuch auf, ein Drache sprach plötzlich in den Worten eines Fuchses, ein Gebet mischte sich unter die Beschreibung eines Wintermarktes.

Verwirrt und ein wenig überfordert blieb Laurin schließlich stehen. In diesem Moment hörte er ein tiefes, langsames Atmen, das nicht vom Wind kam. Es klang, als würde ein großes Wesen irgendwo im Innern des Klosters liegen und im Rhythmus des Sturms Luft holen. Neugierig folgte Laurin diesem Laut durch den Gang, die Treppe hinunter, bis in den verschneiten Klosterhof.

Dort sah er Brutzel. Der Drache lag halb im Schnee, die Schuppen matt und mit einer dünnen Eisschicht überzogen. Aus seinen Nüstern stieg nur ein schwacher Hauch, mehr Nebel als Feuer. Laurin erschrak, aber er hatte keine Angst. Dieser Drache war nicht das wütende Wesen aus den Kriegsgeschichten, die er kannte. Brutzel wirkte alt und müde, eher wie ein Wächter, der zu lange allein Wache gehalten hatte.

„Du bist Laurin“, sagte der Drache mit leiser Stimme, als er ihn bemerkte. „Ich kenne dein Lesen. Ich habe deinen Atem in den Nächten gehört.“ Laurin trat näher, unsicher, ob er das wirklich hören wollte, aber auch ein wenig stolz. „Bist du… der Drachen aus den Chroniken?“ Brutzel lächelte kurz. „Ein Teil von ihnen. Ich bin ein Hüter der Winterzeit. Ich halte das Gleichgewicht zwischen Kälte und Wärme, zwischen Rückzug und Gemeinschaft. Aber mein Feuer ist schwach geworden, und der Sturm nutzt das aus.“

Laurin setzte sich in den Schnee, trotz der Kälte. „Kann ich etwas tun?“
Der Drache blinzelte langsam. „Mein Feuer lebt von mehr als Holz. Es wärmt, wenn Menschen einander zuhören, wenn sie Geschichten teilen und darin Sinn finden. Früher wurde hier viel vorgelesen. Kinder, Mönche, Gäste – alle kamen zusammen. Die Geschichten sind in die Luft gestiegen, und aus dieser Luft habe ich geatmet. Doch in den letzten Jahren ist es stiller geworden. Viele Bücher bleiben geschlossen. Der Sturm hat gemerkt, dass mein Feuer schwächer ist als früher.“

Laurin dachte an die vielen Abende, in denen er allein und leise gelesen hatte. Er dachte an die Bücher, die niemand mehr ansah, und an Geschichten, die er selbst mit dem Gedanken „später“ wieder ins Regal gestellt hatte. Das schlechte Gewissen drückte auf seine Brust. Doch statt sich abzuwenden, stand er entschlossen auf.

„Wenn dein Feuer von Geschichten lebt“, sagte er, „dann müssen wir dir Geschichten geben. Nicht nur meine – alle, die wir hier finden können.“
Brutzel nickte müde. „Aber sie müssen geteilt werden. Es reicht nicht, dass du sie nur im Kopf behältst. Die Worte müssen in den Raum, in die Kälte, in mein Atmen.“

Laurin kehrte in die Bibliothek zurück. Anders als zuvor suchte er jetzt nicht nach einem perfekten, ganzen Buch. Er nahm einzelne Seiten vom Boden auf: ein Stück eines Weihnachtsliedes, ein Abschnitt aus einer Drachenchronik, einen Teil eines Tiergleichnisses, einige Zeilen eines alten Gebetes. Er legte sie auf einen Tisch, zündete die Kerzen neu an und begann laut zu lesen.

Zuerst wirkten die Bruchstücke fremd nebeneinander. Ein Vers über Schnee stand neben einem Satz über Feuer, ein Fuchs sprach in der Sprache eines Chronisten. Doch je länger Laurin las, desto mehr ergab sich ein neues Bild: Die Fragmente führten ein eigenes Gespräch. Der Drache aus der Chronik bekam einen Platz in der Weihnachtsnacht, das Lied vom Frieden legte sich über die alten Kämpfe, und das Gleichnis über das Tier erzählte plötzlich davon, wie man zuhört, statt zu richten.

Während Laurin las, merkte er, dass die Bibliothek sich veränderte. Einige Bücher klappten auf, als würden sie lauschen wollen. Andere gaben freiwillig weitere Seiten frei, die sich zu den vorhandenen gesellten. Es war, als würden die Geschichten einander erkennen und sich nicht mehr durch ihre Einbände getrennt fühlen.

Mit einem Bündel dieser gelesenen Seiten kehrte Laurin zu Brutzel in den Hof zurück. Der Sturm tobte noch, aber weniger wild als zuvor. Laurin stellte sich neben den Drachen, zog seinen Mantel enger um sich und las weiter. Der Klang seiner Stimme mischte sich mit dem Heulen des Windes.

Je länger er sprach, desto ruhiger wurde die Luft. Brutzels Atem ging tiefer, und in seiner Brust flackerte ein warmes Licht auf. Es war kein schlagartiger Ausbruch, sondern ein langsames, stetiges Wiederaufleben. Der Schnee um den Drachen begann leicht zu schmelzen, und an den Fenstern des Klosters sammelte sich kein neues Eis mehr. Das Kloster wirkte weniger wie ein einsamer Steinblock im Winter und mehr wie ein Schutzraum, der von innen her warm wurde.

Als Laurin eine Pause machte, um Luft zu holen, sah er, dass Brutzels Augen klarer geworden waren. „Siehst du?“, sagte der Drache leise. „Die Geschichten gehören zusammen. So wie die Menschen. Kein Buch muss alles sagen. Aber wenn ihre Worte sich begegnen, entsteht etwas, das stärker ist als der Sturm.“

Laurin spürte eine Ruhe in sich, die er zuvor nicht kannte. Die Unordnung der Seiten wirkte nicht mehr bedrohlich. Sie erinnerte ihn an die Menschen, die er kannte: jeder mit eigenen Fragmenten von Erfahrungen, keiner vollständig, aber alle fähig, einander zu ergänzen.

In dieser Weihnachtsnacht blieb Laurin noch lange bei Brutzel. Er las, schwieg, hörte dem leiser werdenden Wind zu. Irgendwann schlief er im Sitzen ein, das Gesicht an die warme Flanke des Drachen gelehnt. Als er am Morgen erwachte, war der Sturm vorbei. Über dem Kloster spannte sich ein klarer Winterhimmel, und in der Luft lag ein zarter Geruch nach Rauch und Wachs.

Von diesem Tag an änderte sich die Gewohnheit im Kloster. Wer zu Weihnachten dort blieb, versammelte sich abends in der Bibliothek. Man las laut vor, aus alten und neuen Büchern, aus ganzen Bänden und aus geretteten Einzelblättern. Kinder durften sich Seiten aussuchen, Mönche ergänzten ihre Erinnerungen, und manchmal erzählte sogar jemand von eigenen Erinnerungen, die in keinem Buch geschrieben waren.

Brutzel blieb in der Nähe, meist still, oft im Schatten eines Torbogens oder halb hinter einer Mauer. Doch immer, wenn eine Geschichte jemanden berührte, wenn jemand lachte, nachdenklich wurde oder sich getröstet fühlte, glomm es kurz in seiner Brust. So wurde sein Feuer nicht mehr nur in Gefahrensituationen gebraucht, sondern war ein fester, stiller Teil des Lebens im Kloster.

Laurin lernte aus all dem, dass Bücher und Drachen etwas gemeinsam haben: Beide brauchen Menschen, die sich ihnen zuwenden. Ein Buch bleibt stumm, wenn es niemand aufschlägt, und ein Drache der Winterzeit bleibt schwach, wenn niemand seine Wärme braucht. In jener Weihnachtsnacht begriff er, dass Wissen erst dann wirklich wärmt, wenn es nicht nur gesammelt, sondern miteinander geteilt wird – und dass selbst ein alter Drache manchmal einfach jemanden braucht, der ihm zuhört.

(von Michel Rhode)